Die ganze Welt in einer Ente
Zum Tode von Carl Barks (27. März 1901 - 25. August 2000)
Die traurige Nachricht enthielt einen Fehler voller Wahrheit: Carl Barks sei tot, meldeten die WDR-Radionachrichten am 25. August, "der Erfinder der Comicfigur Donald Duck".
Barks hat Donald nicht erfunden, eher gefunden. Ohne Barks wäre der kleine Herr Duck blass geblieben, belanglos, öde und vielleicht vergessen bis heute. Er hat den jähzornigen Erpel aus den Filmen und frühen Tageszeitungs-Streifen von Al Taliaferro adoptiert, erzogen und zivilisiert. Erst Barks hat der Ente eine wirkliche Familie gegeben, hat aus dem kindischen Wüterich einen (naja) treusorgenden Onkel seiner Neffen, Knecht seines Onkels und abenteuerlustigen Spaß- und Spießbürger geformt.
Und einen geborenen Verlierer: Nicht dem klotzreichen Dagobert ("zäher als die härtesten"), nicht dem unsäglich glücklichen Gustav ("immer tadellos frisiert") flogen unsere Herzen zu - nein, dem unseligen Tölpel, der nicht mal die abgebrochenen Beine von Glastierchen unfallfrei wieder ankleben kann. Im Scheitern liegt die Kraft.
Insofern hat Carl Barks Donald doch erfunden, den Motor und die Seele eines großen, großartigen Lebenswerks, eine literarische Figur - in ihrer Vieldeutigkeit und Tiefe vielleicht einem Faust ebenbürtig. Ein Charakter, dem alle menschenmöglichen Erfahrungen widerfahren sind (außer Sex und Tod), letztlich eine Ikone des 20. Jahrhunderts: Die ganze Welt in einer Ente.
Möglich war das durch Barks' Doppelbegabung: Er war ein vorzüglicher Zeichner, der Linien Leben und Seelen verleihen konnte, zugleich ein Erzähler, dem man atemlos lauschte, weil er straffe Spannungsfäden in epische Gemälde flocht und dabei noch der nichtigsten Nebenfigur liebevoll Farbe verlieh ("...und Professor Knall. Keine Schönheit, aber ein bedeutender Chemiker").
Wären Comics nicht die Leidenschaft weniger Enthusiasten, sondern würden neben Prosa und Poesie als gleichberechtigte Form der Literatur gewürdigt, stünde Barks in Bibliotheken vermutlich im Regal "Klassiker". Er selbst strebte freilich nie nach Ruhm. Wichtiger als (angemessene) literarische Anerkennung war Barks stets nur die Gewißheit, daß seine Leser - Kinder zuerst - "einen reelen Gegenwert für ihre 10 Cents bekommen".
Da sich die Literatur-Kunde freilich beharrlich weigert, Comics zur Kenntnis zu nehmen, blieb Barks der Prophet einer manchmal spinnerten, immer begeisterten Fan-Gemeinde; dank edler Bücher, teurer Lithographien und unbezahlbarer Originale beliebtes Objekt einer zahlungskräftigen Sammlerschaft. Die deutschen "Donaldisten" gar halten Entenhausen für real und Barks für ein Medium, das wahre "Berichte" aus der Enten-Metropole in einem erdähnlichen Parallel-Universum reportiert. "Verstehen Sie den Quatsch?" "Nicht die Bohne". Dr. Spinnhirn läßt grüßen.
In Deutschland ist die Barks-Begeisterung eng verbunden mit "seiner" Übersetzerin Dr. Erika Fuchs (geboren am 7. Dezember 1906 in Rostock), die den Enten kongenial Witz und Stimme gab. Reinhard Mey sagte mal über sie: "Ich weiß, daß ich sie sehr früh wegen ihres Wortwitzes und ihrer Sprache geliebt habe, für die Formulierungen und Sprüche, die wir Kinder sofort in unsere Alltagssprache übernahmen."
Barks, geboren auf einer Farm in Oregon am 27. März 1901 (Sternzeichen Widder), wuchs kleinbürgerlich auf und blieb es ein Jahrhundert lang. Ein manchmal reaktionäres Landei, angewidert von Städten, Trubel, Menschenmassen; ein lärmscheuer Eremit, der aus nichts als Phantasie, eigener Weitsicht und ein paar Anregungen aus National Geographic ein ganzes Universum entwarf. Ein Humorist und Tragödien-Schreiber von seltenen Gnaden zudem, der selbst aus alltäglichem Fug und Unfug Geschichten voll universeller Wahrheit komponierte. Bei ihm sah noch ein Nichts nach Etwas aus.
Viele Bewunderer sahen mit Rührung, dass er spät aber immer noch kreuzfidel und hochverdient ernten konnte, was er zeitlebens gesät hatte. Die späte Ehre machte ihn, den jahrzehntelang anonymen Zeichenknecht Disneys, noch wohlhabend. Es war, als hätte Donald doch noch Dagoberts Geldspeicher geerbt.
Zugleich entzog Carl Barks sich seinen Fans im gleichen Maß, wie sie ihn bedrängten. "Menschen", schrieb er 1994 der FAZ in ihren Fragebogen, seien "Maden, die den Kadaver der Erde vertilgen".
Bemerkenswert ist vor allem die gerühmte Vielschichtigkeit seines Werks: Das vordergründige Abenteuer ist zumeist verbunden mit einer Meta-Erzählung, in der Barks seine Leser wissen läßt, was er von der Welt und ihren Bewohnern hält. Kinder und Erwachsene lesen die Geschichten so unter durchaus verschiedenen Blickwinkeln, aber mit stets gleicher Lust. Gewollt hat er das nicht. Alles sei reine Unterhaltung, beteuerte er stets. Nun gut. Dann sprechen seine Werke um so beredter von seinem feinen, zutiefst menschlichen Humor.
Ein Aspekt des Gesamtwerks, der meines Wissens noch nicht eingehend betrachtet wurde, aber einen guten Teil Barks'schen Zaubers ausmacht: Die Geschlossenheit seiner Duck-Saga über ihren gesamten Umfang. Es ist egal, welche Geschichte ich zuerst lese und welche als nächste - eine passt immer zur anderen. Es gibt keine Vor- und keine Nachzeitigkeit, keine zwingende Reihenfolge, keine augenfälligen Brüche. Jede Geschichte ist universell und zugleich ein Tröpfchen in einem Meer.
Minimale Reminiszenzen an vorhergehende Erzählungen erlaubte Barks sich selten. Neue, mehrfach verwendete Charaktere waren - auch wenn sie eine Evolution durchmachten - fast immer auf den ersten Sitz stimmig; sie gewannen vielleicht Facetten dazu, nie aber unerwartete neue Qualitäten.
Zeichnerisch hat er Daniel Düsentrieb und die Panzerknacker (die bei ihrem ersten Auftritt wie zu groß geratene Lausbuben wirkten) rasch mit wenigen Änderungen zu ihrem endgültigen Sein geführt.
Eine perfekte innere Harmonie über mehr als 6000 Seiten, 500 Erzählungen und fast 25 Schaffensjahre.
Einzig die Möglichkeiten Dagoberts - entworfen für einen einmaligen Auftritt - unterschätzte er anfangs. Aber auch das Werden der reichsten Ente der Welt war in Zeichnung und Charakterisierung schnell, definitiv und eine Erfolgsgeschichte wie sonst nur das Duck'sche Imperium: Vor allem in Amerika avancierte Dagobert - dort $crooge McDuck - bald zum zentralen Charakter der Duck-Familie -; vielleicht, weil er den "Amerikanischen Traum" (vom Schuhputzer zum Phantastilliardär) verkörperte wie keine andere fiktive oder reale Figur.
Mit kühner Selbstverständlichkeit nennt die FAZ in einem ersten, kurzen Nachruf Cark Barks den "einflußreichsten Comiczeichner des 20. Jahrhunderts". Objektiv festzuhalten ist zumindest dies: Sein Tod war eine "Meldung" in allen wichtigen Nachrichtensendungen, allen bedeutenden Zeitungen. Solche öffentliche und kulturhistorische Bedeutung wurde noch keinem Comiczeichner zugemessen.
Die WELT widmete Barks sogar ein Farbbild auf der Titelseite und den Aufmacher im Feuilleton. Barks "machte aus dem Comic-Wesen (Donald Duck) die reichhaltigste und in ihrer Kontinuität bemerkenswerteste Kunstfigur des letzten Jahrhunderts, längst nicht bloß für Kinder", schrieb Holger Kreitling dort. Die ZEIT gar stellte ihr ganzes Feuilleton ins Licht der Ente und illustrierte alle Artikel mit Duck-Bildern (leider nicht von Barks).
Carl Barks ist - hat man einmal seine seltene Klasse eingeatmet und verinnerlicht -; immer unverwechselbar unter den vielen Meterware-Zeichnern des Disney-Konzerns.
Barks verdanke ich deshalb meine erste Comicsammlung: Ein schäbiges, graues Ringbuch. Besonders schöne Geschichten trennte ich als Zehnjähriger übersorgsam aus der Micky Maus und heftete sie ab: Barks, alles nur Barks, wie ich erst später erkannte.
Denn von einem Herrn dieses Namens hatte ich damals noch nie gehört, schon als Kind aber treffsicher die Erzählungen des "guten Zeichners" aussortiert, wie so viele Fans vor mir und nach mir. Fand ich auf den Flohmarkt ein Heft mit einer Barks-Geschichte, wartete ich, bis ich Gummibären oder Schokolade dazu hatte und schloß mich in mein Zimmer ein, um ungestört lesen zu können. Nur lesen. Ich war gar nicht mehr da. War kurzzeitig abgetaucht nach Entenhausen, nach Tralala, zum Nordpol, nach Weitfortistan oder sonstwohin.
Die Geschichten wirkten schon damals "alt"; alt im Sinne von "gut und bewährt". Sie waren alt, aber nicht überholt. Zeitlos komisch und spannend.
Euphorie überkommt mich heute noch, wenn ich die Geschichten des DuckMan lese. Ich bin - wie jedermann - ein willkommener Gast in dieser kleinen, bunten Welt voller Enten und Eulen, Schweine und Hunde. Wie oft haben mir die Ducks am Anfang einer Geschichte ihr Wohnzimmer geöffnet: Donald sitzt im Sessel und liest ein kluges Buch ("Was des Menschen Wille erstrebt, das erreicht er"), die Neffen machen den Abwasch.
Vertraut ist das, beschaulich und allgemeingültig wie (m)ein ganz normales Bürgerleben -; und der Ausgangspunkt für die nächste Tragikomödie. Oder darf ich diesmal mit auf eine Abenteuerreise? Werden wir den Yeti finden, die Sumpfgnomen oder den Schatz des Marco Polo? Egal, wohin Donald geht. Ich bin dabei. Alle fünf Kontinente habe ich so kennengelernt, lange vor der Nachbarstadt meines westfälischen Heimatdorfes.
Am Ende kehren wir zurück nach Entenhausen. Reicher, klüger oder völlig zerrupft mit Blasen an den Flossenfüßen, weil wir per Pedes aus dem Himalaya heimgekehrt sind, während Gustav (das Ekelpaket) das Einhorn gefangen und an Dagobert verscherbelt hat. Erschöpft, aber mit einem schönen Gefühl fallen wir in den nächsten Sessel und sammeln Kraft. Fürs nächste Abenteuer.
Analysen Barks'scher Werke und Beschreibungen seines Lebens füllen ganze Bücher. Die wichtigsten Stationen seiner Biographie und Binsenweisheiten zu seiner Arbeitsweise und -;philosophie sind für Comicfreunde längst kanonisches Wissen.
Barks Bedeutung hat Reinhold Reitberger in seiner Disney-Biographie bereits 1979 kurz, aber präzise beschrieben (rowohlts Monographien, rm 226):
"Der berühmteste und beste von allen Zeichnern für Disney-Comics aber war Carl Barks, der jahrzehntelang in aller Welt nur als "der gute Zeichner" bekannt war und der für viele als das größte Genie der Comics überhaupt gilt. (...) Durch die steten Nachdrucke in Heft- und Buchform bleibt das Mammutwerk klassischer und meist zeitloser Geschichten auch in Zukunft den Lesern zugänglich. Wie beim Zeichentrickfilm kamen auch in den Comics keine neuen Talente hinzu (Anm: ausschließlich auf Disney bezogen). Die alten Meisterstücke werden in Wiederaufführungen oder Nachdrucken auch künftige Generationen über die Banalität der Neuproduktionen hinwegtrösten."
In der Nacht auf Freitag, den 25. August 2000, trat Carl Barks in einem Krankenhaus im US-Staat Oregon seine letzte Reise an, nur wenige Monate vor seinem hundertsten Geburtstag.
Er litt nicht an Perduftia Spiriti noch Pumperitis der Pipelines, sondern an tückischer Leukämie. Nicht Dr. Quakelbein noch Dr. Doppelkopp konnten ihm mehr helfen. Daß Krankheiten auch tötlich sein können, ist in Entenhausener Medizin-Studien nicht vorgesehen.
Zuletzt, als die Kraft schwand, verweigerte Carl Barks seine Medikamente, sandte einen letzten Gruß an seine Fans und ging. Diesmal ganz allein. Möge er unterwegs Komödien und Abenteuer erleben, interessante Leute treffen und ankommen in Tralala, wo das Leben schlicht und glücklich ist. So, wie er es sich wohl immer erträumt hat.
Mit 99 Jahren hat Carl Barks ein fast biblisches Alter erreicht. Daß er nicht mehr ist, scheint gleichwohl unwirklich. Er wirkte so ewig. Vielleicht habe ich, haben wir alle das verwechselt mit seinem Werk, das uns bleibt als Trost. Denn Barks' Enten sind unvergänglich.
Ludger Böhne
(Dieser Artikel erschien in der 176 Ausgabe des Comic Magazins "Die Sprechblase", welches vom Norbert Hethke Verlag herausgegeben wird.)
Kurz-BiographieCarl Barks wird am 27. März 1901 in Merrill (Oregon) geboren. Mit 18 verläßt er die Farm seiner Eltern, bewirbt sich - erfolglos -; bei Zeitungen als Zeichner. 1928 verkauft er erste Witz-Zeichnungen. Viele andere Jobs abseits von Comic und Film (Farmer, Holzfäller, Hühnerzüchter) prägen ihn in dieser Zeit als Mensch und Erzähler.
1935 findet Barks Arbeit als Zwischenphasen-Zeichner in den Disney-Studios, wechselt dort bald in die Story-Abteilung, wo er 1942 an etwa 30 Donald-Filmen mitarbeitet. Noch vor seinem Abschied von den Studios im November 1942 ensteht seine erste Comic-Erzählung "Donald Duck finds Pirategold".
Bis zu seinem Ruhestand am 30. Juni 1966 schreibt und zeichnet er ein in Qualität und Quantität unerreichtes Lebenswerk an Entengeschichten. Als Ruheständler verfaßt Barks weitere Skripts und wird durch seine Öl-Gemälde mit klassischen Duck-Szenen und den danach gedruckten Litographien wohlhabend.